Sitzung: 04.09.2019 Ausschuss für Gesundheit, Soziales und Generationenfragen
Beschluss: zur Kenntnis genommen
Vorlage: 0144/2019
Herr Andreas
Louven, Leiter des Amtes für Soziales, berichtet hierzu wie folgt:
Am 01. Januar 2019
tritt die dritte Reformstufe des
Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft, die für den Kreis Heinsberg als
(Örtlichem) Träger der Sozialhilfe weitreichende Änderungen mit sich bringt.
Besonders hervorzuheben
ist die Herauslösung der Regelungen zur Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderung aus dem Recht der Sozialhilfe (Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch -
(SGB XII), 6. Kapitel) und Eingliederung als „Besondere Leistungen zur
selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen“ in das
Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX), Teil 2.
Diese „Besonderen
Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen“
werden zukünftig von den „Trägern der Eingliederungshilfe“ erbracht, wobei hier
die bisher aus dem Sozialhilferecht bekannte Unterscheidung in „Überörtliche“
und „Örtliche“ Träger entfällt. Die Träger der Eingliederungshilfe werden von
den Ländern bestimmt[1]. Das Land NRW hat grundsätzlich die Landschaftsverbände Rheinland und
Westfalen-Lippe zum Träger der Eingliederungshilfe bestimmt[2], davon abweichend die Kreise und kreisfreien Städte für Leistungen der
Eingliederungshilfe an Personen bis zur Beendigung der Schulausbildung an einer
allgemeinen Schule oder an einer Förderschule, längstens bis zur Beendigung der
Sekundarstufe II[3]. Letzteres gilt nicht für Personen, die Leistungen der
Eingliederungshilfe über Tag und Nacht entsprechend § 27c Abs. 1 Nrn. 1 und 2
SGB XII, zur Betreuung in einer Pflegefamilie, in heilpädagogischen
Tagestätten, in Kindertageseinrichtungen sowie in der Kindertagespflege oder im
Rahmen der Frühförderung erhalten. Auch hier sind die Landschaftsverbände die
Träger der Eingliederungshilfe.
Zusammengefasst ist
also der Kreis nun als Träger der Eingliederungshilfe zuständig für alle
Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche/junge Erwachsene in der
Herkunftsfamilie mit Ausnahme der Frühförderung und Eingliederungshilfen in
Kindertagesstätten.
Für Leistungen der
Eingliederungshilfe ist nun eine Gesamtplanung normiert, die das für alle
Rehabilitationsträger verbindlich geltende Teilhabeplanverfahren ergänzt[4].
Um Eingliederungshilfeleistungen erbringen zu können, muss der Kreis als
Eingliederungshilfeträger gegebenenfalls neue Leistungsvereinbarungen
abschließen[5].
Ab 2020 entfällt
die Unterscheidung von Eingliederungshilfen in ambulanten und stationären
Wohnformen und damit die dort bekannte „Komplexleistung“ aus dem Mix von
Lebensunterhalts- und Fachleistungen, die zwischen dem Träger des Heimes (der
stationären Einrichtung) und dem Träger der Sozialhilfe, aber nicht dem
Menschen mit Behinderung, vereinbart wurde. Der Träger der Eingliederungshilfe
wird künftig lediglich die (therapeutischen, pädagogischen oder sonstigen)
Fachleistungen erbringen, während für den Lebensunterhalt und die notwendigen
Kosten der Unterkunft, wie bei Menschen ohne Behinderungen, Leistungen nach dem
3. oder 4. Kapitel des SGB XII durch den örtlichen Sozialhilfeträger bzw. nach
dem SGB II durch das Jobcenter erbracht werden[6].
Menschen mit Behinderungen, die bisher in stationären Einrichtungen der
Eingliederungshilfe leben, werden also künftig in sogenannten „besonderen
Wohnformen“ wohnen. Das Wohnumfeld wird sich zum 01. Januar 2020 aber nicht
sofort ändern, Veränderungen werden sich sukzessive ergeben. Es ändert sich
aber das rechtliche Umfeld - anders als bisher muss der Mensch mit Behinderung
(unterstützt durch seine(n) Betreuerin/Betreuer oder Bevollmächtigte(n)) einen Mietvertrag (in der Regel nach dem
Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz - WBVG)
und einen Vertrag über die Eingliederungsleistungen, die in Anspruch
genommen werden sollen, mit der Einrichtung als Vermieter und Dienstleister
abschließen[7].
Anders als bisher ist nun der Mensch mit Behinderung
verfügungsberechtigt über die ihm zur Verfügung stehenden Einkünfte wie Rente,
Werkstatteinkommen u. Ä.. Ebenso muss sie/er aber die Bezahlung der Miete, der
mit dem Vermieter vereinbarten zusätzlichen Leistungen, gegebenenfalls von
Lebensmitteln und die Bezahlung der in Anspruch genommenen Fachleistungen
gewährleisten.
Es ist davon auszugehen, dass der weit überwiegende Teil der derzeitigen
Heimbewohner Anspruch auf Lebensunterhaltsleistungen nach dem 3. Kapitel des
SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) oder dem 4. Kapitel des SGB XII
(Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) hat.
Für den Kreis als Sozialhilfeträger bedeutet dies, dass Leistungen zum
Lebensunterhalt für weitere ca. 500 Personen zu erbringen sind, die im ganzen
Bundesgebiet verteilt sein können. Dies ist den Zuständigkeitsregelungen
geschuldet, wonach der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich der Mensch mit
Behinderung vor Heimaufnahme seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ hatte, zuständig
ist. Ist also (beispielsweise) ein Mensch mit Behinderung aus Heinsberg kommend
in München in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe aufgenommen
worden, ist der Kreis Heinsberg für die Lebensunterhaltsleistungen zuständig.
Da solche Aufnahmen teilweise bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegen,
ist der zuständige Träger der Sozialhilfe teilweise nur sehr schwer zu
ermitteln. Genauere Zahlen konnte der LVR bisher nicht mitteilen.
Da die Betroffenen sich bisher nicht selbst mit Mietvertragsrecht und
der Verwaltung des eigenen Geldes
beschäftigen mussten, besteht bei den Menschen eine erhebliche Verunsicherung,
ebenso wie bei den Einrichtungen, die nun für Wohn-, Gemeinschafts-,
Fachleistungs- und Mischflächen Miethöhen zu kalkulieren und Betriebskosten
festzusetzen haben.
Zusammen mit den Einrichtungen ist das Amt für Soziales bemüht, den
Umbruch für die betroffenen Menschen mit Behinderung möglichst unproblematisch
zu gestalten. Hierzu hat das Amt für Soziales sogenannte „Netzwerktreffen“
organisiert, in denen mit der Anbieterlandschaft im Kreis die
sozialhilferechtlichen, mietrechtlichen und organisatorischen Problemlagen
besprochen und Abläufe vereinbart wurden. In den Einrichtungen selbst wurden in
Zusammenarbeit mit den Einrichtungsträgern vom Amt für Soziales sechs
abendliche Informationsveranstaltungen durchgeführt, um den Bewohnern bzw. den
Betreuern /Bevollmächtigten Erfordernisse und Abläufe nahezubringen.
Für die Sachbearbeitung in den zusätzlichen Fällen wurden im Amt für
Soziales vier weitere Stellen (gehobener Dienst A9/A10 LBesG) eingerichtet und auch schon besetzt.
In allen Neufällen muss am 01. Januar 2020 die zustehende
Sozialhilfeleistung auf dem Konto der/des Leistungsberechtigten sein, damit die
Miete gezahlt werden kann und der Lebensunterhalt gewährleistet ist. Hierfür
muss bereits jetzt sichergestellt werden, dass die entsprechenden Leistungen
auch beantragt werden. Die Anträge sind in der verbleibenden Zeit bis Mitte
Dezember 2019 noch zu bearbeiten. Hierzu wird das Amt für Soziales mit den
Einrichtungen und dem LVR die Menschen, die hier zu betreuen sind,
identifizieren, zur Antragstellung auffordern und darauf hinwirken, dass der
Antrag auch gestellt wird. Aktuell liegen bereits 154 Anträge vor und sind in
Bearbeitung.
Auch für die Beschäftigten in den beiden Werkstätten für Menschen mit
Behinderung (WfbM) im Kreis ergeben sich ähnliche Änderungen. Hier wird ab 01.
Januar 2020 die Mittagsverpflegung nicht mehr im Rahmen der Eingliederungshilfe
vom LVR erbracht, sondern ist vom Werkstattbeschäftigten aus seinem Einkommen
und gegebenenfalls ergänzender Lebensunterhaltsleistungen nach dem SGB XII
selbst zu finanzieren. Hierzu hat der Bundesgesetzgeber ab 2020 einen weiteren
„Mehrbedarf“ normiert[8]. Wegen der damit einhergehenden Erhöhung des sozialhilferechtlichen
Bedarfs wird nun eine Vielzahl von Werkstattbeschäftigten erstmals einen
Anspruch auf Lebensunterhaltsleistungen nach dem SGB XII haben. In
Zusammenarbeit mit den beiden Werkstätten ist das Amt für Soziales derzeit
dabei, auch hier bei den ca. 1.000 Beschäftigten[9] (ohne Heimbewohner!) die potentiell Leistungsberechtigten
zu identifizieren und zur Antragstellung aufzufordern. Da bei diesem
Personenkreis aufgrund der Delegation der Aufgabe überwiegend den
kreisangehörigen Kommunen die Bearbeitung der Anträge obliegt, sind diese
ebenfalls mit eingebunden.
Die damit einhergehenden Personalbedarfe beim Kreis bzw. bei den
kreisangehörigen Kommunen lassen sich derzeit noch nicht abschätzen.
Von Seiten des Amtes für Soziales werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die rechtzeitige Leistungsgewährung für die Werkstattbeschäftigten und die Menschen in besonderen Wohnformen sicher zu stellen.
[1] § 94 Abs. 1 SGB IX
[2] § 1 Abs. 1 Ausführungsgesetz zum Neunten Buch Sozialgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen (AG-SGB IX NRW)
[3] § 1 Abs. 2 AG-SGB IX NRW
[4] §§ 117 ff SGB IX
[5] §§ 123 ff SGB IX
[6] Siehe auch: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz/aenderungen-im-einzelnen/
[7] Siehe auch: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz/aenderungen-im-einzelnen/
[8] § 42b SGB XII 2020
[9] Ca. 700 Personen WfbM der Lebenshilfe, ca. 300 Personen Prospex gGmbH